
Liebe Freunde Osteuropas! Ich habe wieder ein super Buch durch. In „Der Fluch des Imperiums: Die Ukraine, Polen und der Irrweg in der russischen Geschichte“ führt uns der Historiker Martin Schulze Wessel in die Zeit des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Meine Rezension:
Wie konnte es zu dem aktuellen Krieg in der Ukraine kommen? Wessel, der seit zwei Jahrzehnten an der LMU München als Professor für Osteuropäische Geschichte lehrt, spannt in seinem im vergangenen Monat erschienenen Buch einen großen Bogen. Er gibt uns tiefe Einblicke in die Geschichte auf dem europäischen Kontinent, wobei die Schwerpunkte auf den Entwicklungen Polens, der Ukraine und Russland liegen und ihre Beziehungen untereinander. Natürlich spielt zwangläufig Preußen, die Habsburgermonarchie sowie weitere Länder eine Rolle.
Was mich an dem Buch besonders erfreut, ist, dass es zwar mit Namen, Fakten und Zahlen nicht geizt – da gibt es wirklich eine Masse an Informationen -, es sich aber gut, flüssig und spannend liest. Los geht es mit der Geschichte des 18. Jahrhunderts. Polen und die Ukraine konnten sich nur mit Mühe als Nationen halten, eingeklemmt zwischen dem Russischen Zarenreich, Preußen, der Habsburgermonarchie und den Osmanen. Immer waren die sie umgebenden Länder daran beteiligt, beide Länder klein zu halten. Während Russland nach dem Untergang des Hetmanats die Elite für sich gewinnen konnte, war das nach den Teilungen Polens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts nicht so leicht. Die Elite des Landes ließ sich nicht mit Geld ködern.
Wessel schreibt von der Heiligen Allianz, einem Bündnis zwischen den drei Monarchen Russlands, Österreichs und Preußens, das einen Neuanfang nach der Zeit von Napoleon setzen sollte. Von den polnischen Aufständen 1830 und 1863/64. Bis zum Krimkrieg, über die beiden Weltkriege zur Sowjetunion und dem heutigen Putin-Russland.
Immer im Blick behält er dabei die beiden Länder Polen und die Ukraine. Wie sie sich über die Jahrhunderte entwickelten, wie sie sich gegenüber dem großen Russland im Osten behaupten mussten und dann doch unterlagen. An einigen Stellen in der Geschichte findet man Parallelen zu heute. Etwa, dass Russland schon vor Jahrhunderten dem Westen Russophobie vorwarf, wo es doch nur eigentlich die Verhältnisse im Osten kritisierte.
Erstaunlich – aber dann eigentlich doch nicht so erstaunlich – war für mich, dass sich bereits der französische Philosoph Voltaire zur Ukraine äußerte und feststellte: „Die Kosaken haben niemals Herren haben wollen … Die Ukraine war immer bestrebt, frei zu sein.“ Zudem scheint in den Jahrhunderten immer wieder durch, dass die Ukraine immer wieder ihren eigenen Weg gehen wollte und gegangen ist. Der Historiker Pogodin stellte in seiner Schrift aus dem Jahr 1834 fest, dass Ukrainer und Russen keine ursprüngliche Gemeinsamkeit haben.
Immer wieder bezieht sich Wessel auch auf die Gegenwart, wenn es allzu starke Parallelen gibt, oder Putin sich auf die frühere Geschichte bezieht. Das wird dann zur besseren Abgrenzung in kursiver Schrift geschrieben.
Das Buch hat mit seinen knapp über 300 Netto-Seiten eine Fülle an Informationen zu bieten und wird dabei nie langweilig. Es bietet einen sehr guten Überblick über die Geschichte der drei Länder Polen, Ukraine und Russland in der vergangenen drei Jahrhunderten. Zum Schluss kommt Wessel zu dem Fazit, „[eine] Zeitenwende in Russland könnte nur eine Niederlage und eine fundamentale Neubesinnung Russlands als postimperiale Nation herbeiführen.“ Ich hoffe sehr, dass es so kommen wird.
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