Liebe Freunde Osteuropas! Gefühlt umhüllt die Ereignisse 2013/2014 im Donbas immer noch ein dicker Nebel. Was ist damals wirklich in der Ostukraine passiert? Klarheit bringt das beeindruckende Buch „Donezk Girl“ der ukrainischen Schriftstellerin Tamara Duda.

Das Buch ist auf Ukrainisch erstmals im Jahr 2019 erschienen. Es ist das Debütwerk der Autorin und hatte in der Ukraine großen Erfolg. Duda erhielt dafür den Preis BBC-Buch des Jahres 2019, 2022 folgte der renommierte Taras-Schwetschenko-Preis, der bedeutendste Literaturpreis, der in der Ukraine vergeben wird.

In „Donezk Girl“ geht es um eine junge Frau, die am Anfang des Romans vom Westen ganz in den Osten der Ukraine, nach Donezk, umzieht. Dort lebt sie bei ihrer Großmutter, lebt sich in der neuen ungewohnten Umgebung ein. Da sie künstlerisch sehr begabt ist, baut sie eine kleine Glaswerkstatt auf, stellt Mitarbeiter ein und wird trotz keiner großen Außenwerbung sehr erfolgreich damit. Bis das Jahr 2014 kommt, die Ukrainer in Kyjiw in Massen auf die Straßen gehen und sich ihre Welt im Donbas vollends wandelt. Wem kann man noch trauen? Wie soll man jetzt reagieren? Kann dieser Krieg gewonnen werden?

Duda greift für ihren Roman auf eigene Erfahrungen zurück. Wie die Hautfigur ist auch Tamara Duda aktiv dabei, ihr Land vor der Bedrohung aus Russland zu schützen. Wie im Roman ist sie anonym auf Social Media-Kanälen unterwegs, um Geld für die ukrainischen Soldaten zu sammeln, den Soldaten etwas zu essen und später auch Drohnen oder Waffen zu bringen.

Ich muss sagen, die Hauptfigur hat mir von Anfang an gefallen. Eine Frau, die anpackt, mit gesundem Optimismus ausgestattet ist, zuweilen aber auch zynisch oder sarkastisch sein kann. Die Geschichte entspinnt sich quasi um die Hauptfigur herum. Sie ist immer pro-ukrainisch, kann nicht verstehen, wie die Menschen im Donbas eher den Russen glauben schenken oder dem ganzen eher gleichgültig gegenüberstehen.

So entwickelt sich die Geschichte nach und nach, wie ein ruhiger Fluss, bei dem der Wasserpegel langsam steigt und die Gebäude und Menschen nach und nach verschlingt. Erst nehmen nur ein paar Besoffene und alte Sowjetnostalgiker das Verwaltungsgebäude in Donezk ein. Und ein paar standhafte Ukrainer stellen sich regelmäßig mutig auf den Platz mit Ukraineflaggen. Doch die Hauptfigur selbst – von vielen Elfe genannt – traut sich nicht, sich den Demonstrierenden anzuschließen. Denn schon sehr schnell wird ihr klar, dass man sich mit pro-ukrainischen Aussagen in ihrer Region doch eher zurückhalten sollte.

Der Gedanke, Donezk zu verlassen, kommt ihr aber nie. Sie will in ihrer Heimat bleiben, auch, wenn die Umstände es ihr immer schwerer machen. Denn der Krieg zieht allmählich immer weiter in ihre Region. Irgendwann gibt es Ausgangsperren, Checkpoints, die von Separatisten kontrolliert werden. Einmal verfährt sie sich auf einer Route und fährt mitten in einen Kontrollpunkt. Die Kontrolleure sind Tschetschenen. Zu einer Zeit, als es in den (deutschen) Medien immer noch hieß, es sei ja ein Bürgerkrieg, in dem sich die Ukrainer mit pro-russischen Separatisten Gefechte liefern.

Dass die Figuren in dem Buch immer mal wieder die Hoffnung haben, dass es so schlimm nicht werden wird und dass das sicher irgendwann wieder aufhören werden, scheint in Anbetracht der Lage, in der die Ukraine heute steckt, fast schon ein naiver Wunschtraum gewesen zu sein.

Der Roman konzentriert sich auf eine überschaubare Anzahl an Protagonisten. Die „Elfe“ und ihre Großmutter, die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Glasfabrik, die die Hauptfigur aufgebaut hat, ein paar Nachbarn und entfernte Bekannte und Freunde. So entsteht ein Kern an Personen, der für seine Region, für sein Land einstehen will, helfen will, wo er kann.

Auf genau so einen Roman habe ich seit Jahren gewartet. Eine Geschichte, die uns vor Augen führt, was wirklich im Donbas vor sich ging. Wie es sich anfühlt, das Ganze hautnah mitzuerleben. Wie haben die Menschen in dieser Zeit gedacht, wie gefühlt.

Dazu muss man sagen, dass „Donezk Girl“ nicht das erste Buch ist, dass sich den Ereignissen ab 2013/14 im Donbas widmet. Zu nennen wären da etwa „Graue Bienen“ von Andrej Kurkow oder „Internat“ von Serhij Zhadan oder „Nullpunkt“ von Artem Tschech. Zu letzterem gibt es auch eine Rezension von mir.

Dudas Roman „Donezk Girl“ gehört aber wahrlich zu den ganz besonderen Werken über die Ereignisse 2013/14 im Donbas. Authentisch berichtet die Autorin über das, was wirklich damals vorgefallen ist, gibt dem Leser bzw. der Leserin einen ungefilterten Blick auf die Vorfälle. In einem Interview wird Duda gefragt, ob ihr Roman auch Kritik erhalten habe. Die gebe es, seien aber nur wenige. Letztlich sei es eine Frage des Geschmacks; es gebe Leute, die Bücher dieses Genres und dieser Thematik nicht lesen wollen. Ein weiterer wichtiger Punkt sei, sagt Duda in dem Interview, dass das Buch offen antirussisch ist. Und die Russen wissen das und versuchen, seine Verbreitung in der Welt zu verhindern. Da kann ich nur umso mehr sagen: Lasst uns dafür sorgen, dass dieses Buch bekannter wird. Wer den Beginn des russischen Krieges im Donbas verstehen will, der lese Dudas „Donezk Girl“. Danach sollte euch einiges klarer sein, falls es das nicht ohnehin schon ist.

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Eine Antwort zu „Nr. 81: „Donezk Girl“ von Tamara Duda”.

  1. Avatar von Chris
    Chris

    „was [ist] wirklich damals vorgefallen“? Diese Antwort bleibt die Rezension schuldig.

    Literatur sollte verbinden. Bei ukrainischen Autoren/Autorinnen kam mir ab und zu der Gedanke, als würden sie bewusst Grenzen ziehen, vergessend, dass auf der anderen Seite ebenfalls Menschen ihr Dasein fristen. Natürlich, es lässt sich alles erklären und rechtfertigen. Aber ist es Kunst? Diese Frage zieht sich zumindest durch die deutsche Literaturgeschichte.

    Was ,wirklich‘ vorgefallen ist, darüber gibt es zig verschiedene, konkurrierende Versionen. Es wird 100 Jahre dauern, bis Historiker diese Katastrophe rekonstruieren.

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