Liebe Freunde Osteuropas! Wochenlang lebte der Ukrainer Volodymyr Vakulenko unter russischer Besatzung, die er leider nicht überlebte. Doch er legte Zeugnis über das ab, was er in den Wochen erlebt hat. Er gibt einen Einblick darüber, wie die Ukrainer über die Russen denken.

Volodymyr Vakulenko lebte in dem kleinen Dorf Kapytoliwka nahe Isjum in der Oblast Charkiw. Er hatte einen autistischen Sohn, den er sehr liebte und den er umsorgte. Er war Kinderautor, verfasste Bücher und Gedichte. Und er war im Herzen Ukrainer, sprach Ukrainisch. Da sein Haus direkt am Dorfanfang stand, bekam er sofort mit, als die Russen in das Dorf kamen. Er hätte nie gedacht, dass sein Heimatdorf mal zum Epizentrum des Krieges wird, beziehungsweise einer raschistischen Besatzung, wie er es auf Notizseiten aufgeschrieben hatte, um sie der Nachwelt zu erhalten. Denn er wusste, welches Schicksal ihm blühen könnte, als bekannter und bekennender Ukrainer.

Mit den Russen geht er deshalb in seinem Texten nicht zimperlich um. Er nennt sie Raschisten, eine Zusammensetzung aus den Worten Russia und Faschist, spricht von Nazifliegern der russischen Luftstreitkräfte, Soldaten der Lumpenarmee und Russengestapo. Für Vakulenko ist klar, wer hier der Feind ist. Er weiß aber auch, dass das im Dorf nicht alle so sehen. Abfällig schimpft er in seinen Notizen über Spione, die für ein bisschen was zu essen den Besatzern alles verraten würden, was sie wissen.

Erstaunlich ist, in welch größtenteils ruhigem Ton er seine Erlebnisse wiedergibt. Er wird zum Chronisten über sein Dorf, berichtet von den Raketenangriffen, die sein Dorf treffen, von den russischen Soldaten, die sich das einfach aus den Häusern nehmen, was sie wollen und später achtlos in den Straßengraben werfen. Auch zu Gesprächen mit den Russen kommt es, doch die sehen Vakulenko teils nur blöd an, da sie kein Ukrainisch verstehen.

Dass die Notizen Vakulenkos überhaupt gedruckt wurden, haben wir einer Ukrainerin zu verdanken, die ebenfalls im russischen Krieg umgekommen ist. Es ist die Autorin Victoria Amelina, die es sich nach dem 24. Februar 2022 zur Aufgabe gemacht hat, die Verbrechen der russischen Invasoren zu dokumentieren. Sie starb am 1. Juli 2023, wenige Tage, nachdem die Russen eine Rakete in eine Pizzeria in Kramatorsk schossen, in der sie sich gerade befand.

Auch sie hat einen Text für dieses Buch hinterlassen. Sie schreibt, wie die mit dem Vater Vakulenkos im Garten nach den Notizen unter dem Kirschbaum sucht und sie letztendlich findet. Unweigerlich zieht Amelina Parallelen zu der sogenannten erschossenen Renaissance. Eine Zeit der 1930er, in der viele ukrainische Schriftsteller und Künstler dem stalinschen Terror zum Opfer gefallen sind.

Auch Gedichte hat Vakulenko hinterlassen, die meisterhaft von Beatrix Kersten ins Deutsche übertragen wurden. In der Regel geht bei der Übersetzung immer etwas verloren, doch die Gedichte wirken sehr poetisch und kraftvoll. Es geht um Gefühle, Musik, Alltägliches und natürlich vor allem um die Ukraine.

Dabei ist Volodymyr Vakulenko nur ein Opfer von vielen, von Zehntausenden. Eine Stimme, die noch wachgehalten wird; durch seine Freunde, die in dem Buch ebenfalls zu Wort kommen und durch die Leserin beziehungsweise den Leser, wenn er das Werk zu Hand nehmen wird.

Volodymyr war ein Mensch mit Ecken und Kanten. Sein Freund Sashko Dermanskyi beschreibt ihn als begabt und aufrichtig, kompromisslos und empfindlich, tollpatschig und romantisch, stur und eigenbrötlerisch. Einen Menschen, den manche leiden konnten, andere wieder nicht. Doch ein Mensch, der in der Ukraine schmerzlich vermisst werden wird. Das wird jedem durch die Lektüre des Buches klar.

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