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Liebe Freunde Osteuropas! Was nach Putin kommt und was aus der russischen Gesellschaft nach dem Krieg wird, mag niemand vorauszusagen. Der Politikwissenschaftler Jens Siegert hat sich trotzdem an das Thema gewagt. Spoiler: Wirklich positiv fällt seine Prognose für Russland nicht aus.

Seit der Großinvasion Russlands beginnen sich wieder mehr Menschen in Deutschland für das Land im Osten Europas zu interessieren. Was ist in Russland seit dem Untergang der Sowjetunion passiert, dass es am Ende in so einem fürchterlichen Krieg mündet? Wieso gehen die Russen nicht gegen diese Ungerechtigkeit auf die Straße? Wie kommt es, dass sich Russland nicht den Wandel zu einer Demokratie geschafft hat, trotz der Hilfe aus dem Westen?

Diese und viele weitere Themen beleuchtet Jens Siegert in seinem Buch „Wohin treibt Russland?“. An Siegerts Buch merkt man schnell, dass das Thema Russland und seine geschichtliche Entwicklung komplex ist. Es lässt sich nicht auf wenigen Seiten erklären, was alles dazu geführt hat, dass Russland heute da steht, wo es steht.

So beschreibt Siegert etwa die klare Trennung zwischen der wlast („Macht“) und dem narod („Volk“), die in den Köpfen der Menschen fest verankert ist. Das russische Volk ist somit nicht gewohnt, Teilhaber dieser Macht beziehungsweise der Politik zu sein. Das führt dazu, dass gesellschaftliches Engagement in Russland bzw. in den Vorgängerstaaten, der Sowjetunion und dem Zarenreich, nicht üblich war. Erst nach dem Ende der Sowjetunion konnten sie sich entwickeln. Doch das Ganze stand unter keinem guten Stern. Denn die Politiker, allen voran Jelzin, waren in den schweren 90er Jahren schnell verhasst.

Und das traf auch die gesellschaftlichen Organisationen, denn sie arbeiteten häufig mit der Regierung zusammen und wurden somit als Teil des Problems wahrgenommen. Nachdem Putin an die Macht kommt, kommen die gesellschaftlichen Organisationen – wie etwa Memorial – spätestens nach Beginn der russischen Großinvasion in der Ukraine vollständig zum Erliegen. Zu pessimistisch ist Siegert an dieser Stelle aber nicht. Er sieht durchaus eine Zukunft für diese Organisationen, denn für die Zeit nach Putin müssen sie nicht bei null anfangen.

In einem Kapitel widmet sich Siegert genauer der Opposition, die auch von Anfang keinen guten Stand hatte. Denn eine wirkliche Macht konnte sie nie ausüben. Siegert schreibt: „Die geringen Einflussmöglichkeiten von politischer Opposition und politischen Parteien führten schon unter Jelzin dazu, dass die Politik im Parlament an Ernsthaftigkeit verlor.“ Am Ende zählte nur noch, wer direkten Zugang zu Putin oder seinem engsten Kreis hatte.

Diese Entwicklung bedeutet aber nicht, dass das gesamte Volk zu einer willenlosen, vom Propagandafernsehen zombifizierten Masse geworden ist. Es ist durchaus noch zu Protest gegen die Politik sprich Putin in der Lage; zu sehen etwa bei den langen Schlangen für den dann später doch nicht zugelassenen Präsidentschaftskandidat Nadjeschdin oder auch die langen Schlangen zur Beerdigung des wohl bekanntesten russischen Oppositionellen Alexej Nawalnyj.

Aber einen großen Umschwung oder gar eine Revolution sieht Siegert Russland für die kommenden Jahre nicht. Nicht nur, weil der offen oppositionell eingestellte Teil der Bevölkerung entweder den Kopf unten hält oder ausgewandert ist, sondern auch, weil viele eben den Aussagen ihres Präsidenten allzu sehr glauben, wie etwa die Kränkung durch den Westen nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die NATO etwa wird – so Siegert – als Relikt aus dem Kalten Krieg wahrgenommen; und damals war sie der natürliche Feind der Russen. Das verfängt bis heute. Obwohl selbst Siegert keine andere Möglichkeit sieht, was anstatt der Nato-Osterweiterung hätte geschehen sollen. Die mittelosteuropäischen Staaten hatten nun mal ein berechtigtes Interesse, dem Bündnis beizutreten.

Siegert analysiert eine Vielzahl an Aspekten der russischen Geschichte und Gesellschaft, fundiert recherchiert und bezugnehmend auf die neuste Literatur zu Russland. Das Buch ist durchaus auch für Einsteiger gut geeignet. Wer sich über das aktuelle Russland informieren will, ist bei diesem Buch auf jeden Fall goldrichtig.

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