
Liebe Freunde Osteuropas! Wenn Yaroslav Hrytsak Kolumbus als Teil der ukrainischen Geschichte sieht, dann weckt das mein Interesse. Mit „Ukraine: Biographie einer bedrängten Nation“ geht Hrytsak einen Ritt durch die Jahrhunderte und zeigt mir ein Land, wie ich sie noch nie gesehen habe.
Yaroslav Hrytsak ist ukrainischer Historiker. Und bei Historikern bin ich – wenn ich sie noch nicht kenne, also ihre Werke – immer etwas vorsichtig, weil manchmal solche Bücher doch etwas trocken und stark akademisch geschrieben sind. Das kann man über Hrytsaks Ukraine-Biographie, die nun endlich auf Deutsch erschienen ist, überhaupt nicht sagen. Vielleicht am Anfang die Erklärung, woher der Name Ukraine und Russland bzw. Rus erklärt wurde, war etwas trocken. Aber nur, weil ich das meiste schon kannte.
Der Rest des knapp 460 Netto-Seiten langen Buches liest sich aber wie aus einem Guss. Der Ansatz, den Hrytsak gewählt hat für sein neustes Buch, ist wirklich toll. Den Leser möglichst wenig mit Zahlen, Daten und Fakten erschlagen und einfach eine Geschichte erzählen. Ich hatte das schon bei mehreren Büchern und auch wieder bei Hrytsak liest sich das Buch, als würde der Opa am knisternden Kaminfeuer sitzen und dem Enkel sagen: Sohnemann, jetzt erzähle ich dir mal etwas über die Ukraine.
Hrytsak beschreibt ein Volk, das unglaubliches Pech hat, gerade dort zu siedeln, wo sie letzten Endes gesiedelt haben. Ein Gebiet mit vielen Bodenschätzen, wie etwa der schwarzen Erde. Die weckten natürlich Begehrlichkeiten bei anderen Nationen und das erschwerte es den Ukrainern zu einer Nation zusammenzufinden.
Dass es bei der Ukraine aber auch so lange dauerte, lag ebenfalls daran, dass die Ukrainer lange Zeit ein Volk von Bauern waren, die sich nicht als eine Nation gesehen haben, ja es gar nicht konnten. Denn für eine Nation braucht es eine hohe Alphabetisierungsrate, es braucht Institutionen, Intellektuelle, die das Gerüst einer Nation bilden können. All das fehlte der Ukraine eine lange Zeit. Wenn ein Land die Moderne erst erreicht, wenn mehr Menschen in Städten als auf dem Land leben, erreichte die Ukraine die Moderne erst in den 1960er Jahren.
Die Ukrainer waren aber auch schon immer ein sehr kämpferisches Volk – und das nicht nur zur Zeit der Kosaken. Erfolglos haben die Sowjets 1917-1920 versucht, die Ukraine zu unterwerfen. Es war schlichtweg nicht möglich, weil die ukrainischen Bauern sich nicht unterwerfen lassen wollten. Sie waren sehr gläubig, meinten, dass Land wurde ihnen von Gott gegeben, um es zu bestellen und von der Landwirtschaft zu leben. Die Kommunisten hatten in ihrem Weltbild keinen Platz. Und auch, wenn die Bauern wenig miteinander zu tun hatten, schlossen sie sich doch zusammen, wenn es galt, einen gemeinsamen Feind zurückzuschlagen.
Besonders spannend war für mich die Phase über den Teil der Ukrainer, die im polnisch kontrollierten Bereich gelebt haben. Das sagt sich immer so schnell daher, ein Teil gehörte zu Polen-Litauen und der andere zum russischen Zarenreich. Aber das dort Ukrainer gelebt haben, mit ihrer ukrainischen Sprache und mit ihrem Wunsch nach einem ukrainischen Staat, das vergesse ich schnell. Diese Zeit macht Hrytsak für mich stark greifbar und plastisch.
Hrytsaks Werk zur Ukraine zeichnet facettenreich, unterhaltsam und immer mit einem Blick über den ukrainischen Tellerrand hinaus die Geschichte dieses Volkes und ihrem Wunsch nach einer eigenen Nation nach. Wenn ihr in diesem Jahr ein Buch über die Ukraine lesen wollt, lest unbedingt das von Hrytsak.
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