Liebe Freunde Osteuropas! Der Journalist Vladimir Esipov meint, mit seinem Buch „Die russische Tragödie: Wie meine Heimat zum Feind der Freiheit wurde“ habe er das absolut falsche Buch zur absolut falschen Zeit geschrieben. Ich hab es mit großem Gewinn gelesen, auch wenn er am Ende eine kalte Dusche für mich parat hatte.

Vladimir Esipov kommt aus Sankt Petersburg, hat in Jugendjahren den Untergang der Sowjetunion erlebt und nach der Schulzeit eine journalistische Laufbahn eingeschlagen, der er bis heute treu geblieben ist. In Russland arbeiten kann er nicht mehr, jetzt ist er Redakteur bei der Deutschen Welle.

Die immerwährenden Fragen über sein Land habe ihn dazu gebracht, dieses Buch zu schreiben, wie Esipov in einem Interview sagt. Und das Buch ist wirklich sehr lesenswert. Spannend schreibt er über die 90er Jahre in Russland, über die verschiedenen Wahlen und was sie für Russland bedeuteten. Wie für ihn in seinen Jugendjahren die Sowjetunion kulturell nichts zu bieten hatte und man als Jugendlicher alles cool fand, was aus dem Westen beziehungsweise aus den USA kam.

Besonders interessant sind die Einblicke in den russischen Journalismus. Esipov beschreibt, wie er in den 1990er Jahren mehrere Monate in deutschen Lokalzeitungen gearbeitet hat und wie stark es ihn faszinierte, mit welcher Akribie und Genauigkeit gearbeitet wurde. Eine Genauigkeit, die es im russischen Journalismus nicht gab. Etwa hat man es bei den Überschriften mit der Wahrheit nicht so genau genommen. Reißerische Schlagzeilen waren wichtiger. Dass der russische Journalismus ein Teil des Problems in der russischen Gesellschaft war – noch bevor Putin in den Nullerjahren ihn in Ketten legte – war mir in dieser Tragweite bislang nicht bekannt.

Das Buch eignet sich für Einsteiger an vielen Stellen, um ein paar wichtige Ereignisse in Russland genauer beschrieben zu bekommen. So erzählt Esipov ausführlich von dem U-Boot Kursk, das direkt zu Beginn von Putins Amtszeit als russischer Präsident gesunken war und alle Mitglieder tötete. Ein damaliger Super-GAU für Putins Glaubwürdigkeit und ein Lehrbeispiel wie er die Medien danach weiter einschränkte. Auch widmet sich Esipov detaillierter der Arbeit und der Ermordung der Journalistin Anna Politkowskaja.

Wer mehr über Russland erfahren will und verstehen will, wie sich dieses Land und seine Menschen in den vergangenen 30 Jahren entwickelt habe, dem kann ich das Buch wirklich empfehlen. Es lohnt sich wirklich.

Ein richtiger Schlag in die Fresse war für mich, als Esipov ganz am Ende seine Meinung über Menschen, die wollen, dass Russland in mehrere Staaten zerfallen solle. Solchen Menschen wirft Esipov vor, eine „absolute[…] Unkenntnis der russischen Gesellschaft, Geschichte, Geografie, Gegenwart und vielen anderen Faktoren, die das Land in den letzten Jahrhunderten prägten“ zu haben. Gut, dass Russland in kleinere Teile zerfällt, ist nicht ausgemacht. Aber in einem besseren Russland sollte die Regionen mehr Autonomie besitzen und über ihre Steuereinnahmen mehr selbst verfügen können, als wie es unter Putin nun ist, der die Gouverneure selbst einsetzt – zumindest bis 2012. Danach gab es wieder Direktwahlen, aber Putin hat durch einen „Präsidentenfilter“ immer noch Einfluss auf die Nominierungen.

Also insgesamt ein anekdotenreiches, vielschichtiges Buch. Man kann viel über Russland lernen. Aber man muss schon die Bereitschaft haben, sich mit Russland beschäftigen zu wollen. Wer das wegen des aktuellen russischen Krieges gegen die Ukraine nicht kann, der muss es auch nicht lesen.

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