Liebe Freunde Osteuropas! Wir wissen alle, dass Putin seinen Krieg gegen die Ukraine lange vor 2022 begonnen hat. Aber wie war es die Jahre davor für die Ukrainer? Darüber hat Artem Tschech in „Nullpunkt“ geschrieben. Und beschreibt schonungslos den Alltag an der Front.

Artem Tschech ist Schriftsteller. Ab Mai 2015 ist etwas mehr als ein Jahr Soldat und geht an die Front. Dabei schwingt nie Pathos bei ihm mit. Es ist einfach seine Pflicht, sein Land zu verteidigen. Ein Land, in dem viele den Krieg gar nicht als Krieg wahrnehmen. Nach ein paar Wochen Ausbildungszeit im Donbas geht es für ihn nach Süden, Richtung Cherson.

Keine Kapitel sind länger als drei Seiten. Es sind Tagebucheinträge, aus Notizen, die er während seiner Zeit als Soldat vor Ort geschrieben hat und später nochmal genauer zu Papier bringt. So wird viel Alltägliches beschrieben. Gespräche mit anderen Soldaten, die Freude darüber, als ihnen ein kleines Kätzchen als Haustier gebracht wird, das allen aber bald nur noch auf die Nerven geht, weil es sich nicht streicheln lässt und auf die Schlafsäcke pinkelt. Die Fragen, was man da eigentlich macht und gegen wen man kämpft. Die auf der anderen Seite werden im Buch Separos genannt. Die lokale Bevölkerung profitiert von beiden Seiten. Die Soldaten geben ihr Geld in den Cafés und Supermärkten aus.

Einmal beschreibt Tschech wie er oft in einem Café ist, das als Wi-fi-Passwort „krimnasch“ („die Krim ist unser“) verwendet. Das sagen eigentlich nur die Russen. Steht die Besitzerin des Cafés etwa auf der russischen Seite. Als die Soldaten sie irgendwann zur Rede stellen, stellt sich heraus: Ja.

Einmal ist Tschech in Kyjiw auf Heimaturlaub. Doch das Abschalten fällt ihm schwer, auch ist er zivile Kleidung nicht mehr gewohnt. Und wundert sich darüber, wie die Menschen in Kyjiw ein so sorgenfreies Leben leben, als würden nicht im Osten des Landes gerade Soldaten in einem Krieg sterben.

Tschech berichtet auch über Korruption an der Front, wie die Höhergestellten ihre Macht ausnutzen, einfache Soldaten ihre Sorgen im Alkohol ertrinken oder zum Feind überlaufen. Da hatte Tschech dann ein paar extrem unruhige Nächte. Musste er doch davon ausgehen, dass die Separos nun jede Stellung genau kannten.

Kampfhandlungen werden in dem Buch nicht beschrieben, wenn auch manchmal Schüsse fallen. Es gibt einfach den Alltag wieder. Viel Banales. Man hat viel Zeit, über sein Leben nachzudenken. Sich über die Mäuse zu ärgern, die durch den Unterstand kriechen und an unmöglichen Stellen verrecken und verwesen.

Ich würde sagen, das ist ein Buch, dass bei all der bald fast unüberschaubaren Lektüremasse über Russlands Krieg gegen die Ukraine bei mir nicht an allererster Stelle steht. Wenn man sich aber für diesen Krieg vor 2022 interessiert, ist das Buch absolute Pflichtlektüre. Man erfährt, wie vielschichtig dieser Krieg damals, die Gesellschaft und die Menschen sind.

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