
Liebe Freunde Osteuropas! Die Erzählungen des ukrainischen Schriftstellers Hryhir Tjutjunnyk zu lesen, ist wie einen kleinen Schatz zu heben. Sie entführen uns in eine Welt in der Ostukraine der 1960er Jahre, über das Leben der einfachen Menschen des Donbas.
Der Autor war mir bislang total unbekannt. Im Jahr 1931 in der damaligen ukrainischen Sowjetrepublik geboren, gilt er als Vertreter der Schistdesjatnyky – auf Deutsch, der „Sechziger“ – die sich gegen das totalitäre Sowjetsystem in ihrer Literatur stellen. Und wenn man Wikipedia glauben mag, ist das letzte ins Deutsche übersetzte Werk von Tjutjunnyk „Das Steppenmärchen“ 1988 erschienen. Das ist schon 36 Jahre her!
Nun also nach fast vier Jahrzehnten ist mal wieder etwas von Tjutjunnyk in die deutsche Sprache übertragen worden: „Drei Kuckucke und eine Verbeugung“. Insgesamt 13 Erzählungen hat Beatrix Kersten übersetzt, von kurzen, die nur wenige Seiten lang sind, bis zu längeren Geschichten. Diese handeln etwa von einem Wanderer, der auf eine alte Dame trifft, die ihn aus ihrem Brunnen trinken lässt und von ihren drei verstorbenen Ehemännern erzählt („Himmelsrand“), dem Jungen Oles, der den winterlichen Temperaturen und dem Eis trotzen muss, um zur Schule zu gelangen und von seinem Großvater auf seine Schwächen hingewiesen wird („Der Wunderling“), von der dritten Tochter, die sich zur Freude und auch etwas zum Leid der Eltern endlich verheiratet und das ganze Dorf in neugieriger Erwartung den Bräutigam aus der Ferne kennenlernen will („Wie sie Katrja verheirateten“) und wie ein junger Mann mit seinem strebsamen Arbeitseifer bei einem Kollegen nur Kopfschütteln auslöst („Iwan Sribnyj“).
Die Erzählungen haben irgendwie nie einen richtigen Anfang oder richtiges Ende. Sie beginnen plötzlich und zum Schluss entschwinden wir den Geschehnissen einfach. Es gibt keine wirklichen Spannungsbögen – zumindest fühlte es sich für mich so an – in den Geschichten. Was auf den ersten Blick monoton und langweilig klingen mag, ist es keineswegs. Denn das sind sie keineswegs. Durch die Sprache Tjutjunnyks, der Zeit entsprechend noch komplex aufgebaut, gerne mit zwei drei Adjektiven vor dem Substantiv und langen Schachtelsätzen, haben die Erzählungen ihren eigenen Charme.
Das Leben der Erzählungen spielt immer auf dem Dorf. In einer kleinen Welt, weit weg von den großen Ereignissen der Geschichte. Die mitunter auch immer mal wieder erwähnt werden, wenn etwa vom „Krieg“ gesprochen wird. Tjutjunnyk gibt einen sehr guten Einblick in das damalige Leben in der Ostukraine. Welche Sorgen, welche Nöte hatten diese Menschen, wie haben sie ihren Alltag ausgefüllt. Wer ganz und gar in eine vergangene ukrainische Welt eintauchen will, für den ist das Buch genau das Richtige.
Und trotzdem habe ich manchmal das Gefühl, dass ich das Buch nicht so gut verstehe, wie ich es verstehen sollte. Den natürlich fehlen mir als Deutschem die geschichtlichen Hintergründe, das ganze Standardwissen eines Ukrainers, um vielleicht die Geschichten und das, was sie vermitteln sollen, vollkommen zu verstehen.
Deshalb ist es sehr schön, dass in einem Nachwort nochmal genauer auf die Biografie des Autors gegangen wird und am Ende in einem Glossar wichtige, dem Deutschen nicht unbedingt bekannte Worte wie Budjonniwka, Chochol, Hopak oder Kirza erklärt werden.
Für Menschen, die sich tiefer mit der ukrainischen Literatur beschäftigen wollen, ist dieses Buch eine sehr gute Gelegenheit, mehr zu lernen. Über den Donbas, die Ukrainer und ihre Welt.
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