Liebe Freunde Osteuropas! Als die russischen Gräuel in Butscha bekannt wurden, waren wir fassungslos. Wie können Menschen zu solchen Grausamkeiten fähig sein. Julian Hans zeigt mit seinem Buch „Kinder der Gewalt“, dass man dafür die russische Gesellschaft verstehen muss. Meine Rezension:

Fünf Verbrechen hat sich der Journalist Julian Hans beispielhaft herausgesucht, um zu erklären, wie die russische Gesellschaft tickt, in was für einem Umfeld die Menschen dort aufwachsen, welche Gesetze dort herrschen. In Russland gelten andere Regeln, als wir es in Deutschland gewohnt sind. Die Welt dort ist härter, brutaler. Und das nicht nur wegen der harten 90er Jahre.

Da ist etwa Kuschtschowskaja, eine gut 30.000-Einwohner-Siedlung im Süden Russlands, keine 200 Kilometer entfernt von der ukrainischen Grenze. Im November 2010 ereignet sich dort ein unfassbares Verbrechen, das in ganz Russland für Gesprächsstoff sorgt. Ein Dutzend Mitglieder einer Familie werden ermordet, die Leichen danach angezündet. Der Schock im Ort ist groß, aber jeder weiß, wer dahintersteckt. Eine Mafia-Familie, die seit langer Zeit in Kuschtschowskaja das Sagen hat. Doch niemand macht etwas dagegen. Nicht wie Polizei, nicht die Justiz und auch im Ort muckt keiner auf. Dieser Fall zeigt, wie jeder einzelne Teil dieser brutalen Gesellschaft in dem Ort ist. Entweder weil er aktiv teilnimmt, oder aktiv wegsieht.

In einem weiteren Fall erzählt Hans von den drei Schwestern Krestina, Angelina und Maria, die ihren herrschsüchtigen Vater brutal ermorden und dafür angeklagt werden. Auch dieser Fall wird in Russland heiß diskutiert. Spielen darin doch Dinge eine Rolle, die viele Frauen aus eigener Erfahrung kennen. Gewalt in der Familie. Und dabei ist Russland kein Land, dass Familienmitglieder vor Gewalt besonders schützt. Im Gegenteil: im Februar 2017 änderte die Justiz das Gesetz bei häuslicher Gewalt. Statt Freiheitsstrafe von bis zu zwei Jahren droht jetzt nur noch ein Bußgeld. Und noch ein Punkt ist symptomatisch für das Land, wie Hans auf Seite 133 anführt. Auf eine Sammelklage beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte – eingereicht von mehreren Frauen – reagierte das russische Justizministerium unter anderem lapidar mit der Aussage, dass „der Staat nicht für Verletzungen und Leid verantwortlich gemacht werden [könne], die durch Privatpersonen verursacht wurden“.

Das Wegsehen bei der Gewalt in der russischen Gesellschaft betrifft auch längst vergangene Zeiten. So trifft Hans Denis Kargodin, einen jungen Mann, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, die Verbrechen seiner Vorväter ans Licht zu bringen. Angefangen bei seinem Urgroßvater, der vom NKWD erschossen wurde. Durch Beharrlichkeit findet er heraus, wer den Erschießungsbefehl gegeben hat, wer seinen Urgroßvater ermordet hat und wer die weiteren Mittäter sind. Doch der russische Staat wird auf ihn aufmerksam und will seine Arbeit unterbinden. Das Regime gründe damals als auch heute seine Macht auf Gewalt, zitiert Hans den Historiker Sergej Medwedew (S.174).

Julian Hans hat viel recherchiert und ist viel gereist, um uns ein breites Panorama der russischen Gesellschaft zu präsentieren. Und das ist auch nötig. Warum es zu den unfassbaren Verbrechen in der Ukraine kam, warum die russische Gesellschaft so brutal sein kann, lässt sich nicht in zwei, drei Sätzen erklären. Nein, die russische Gesellschaft ist komplexer. Julian Hans Buch gebührt der Verdienst, uns die Brutalität der russischen Gesellschaft in all ihrer Komplexität dem Leser verständlich zu machen. Die Überschrift seines letzten Kapitels lautet Hoffnung. Die Hoffnung darauf, dass die Russen fähig sind, eine bessere Gesellschaft aufzubauen. Ich war nicht lange genug in Russland, um das aus eigener Anschauung beurteilen zu können. Doch wenn es Stimmen wie Jelena Kostjutschenko, Ljudmila Ulitskaja, Natalja Kljutscharjowa und Irina Scherbakowa gibt, mag ich irgendwie schon daran glauben.

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