
Liebe Freunde Osteuropas! Ich habe mal wieder ein fantastisches Buch durch. Es geht um das im vergangenen Monat erschienene Buch „Jenseits von Putin – Russlands toxische Gesellschaft“ von Gesine Dornblüth und Thomas Franke. Eine Rezension:
Obwohl nur knapp mehr als 200 Seiten lang, bietet es eine Fülle an Informationen über die russische Gesellschaft. Mit Gesine Dornblüth und Thomas Franke, beide arbeiteten unter anderem von 2012 bis 2017 für den Deutschlandfunk in Moskau, haben wir hier geballte Osteuropa-Expertise. Und das merkt man dem Buch an.
Besonders auf eine Frage erhoffte ich mir Antwort: Ist das jetzt Putins Krieg oder ein Krieg der Russen, der aktuell in der Ukraine vom russischen Aggressor geführt wird. Die Antwort lautet ganz klar letzteres. Doch das Thema ist komplex und Dornblüth und Franke werden diesem mehr als gerecht.
Das Buch beginnt mit Pawel. Ein Russe aus Sankt Petersburg mit einem kleinen Unternehmen. Es geht ihm wirtschaftlich gut. Er ist kein Fan von Putin. Er weiß, dass Russland Propaganda über die Ukraine und den Westen verbreitet. Er sagt viele Dinge, die man sich in Deutschland gerne wünscht, dass alle Russen so denken (und handeln) würden. Etwa: „Um ein Problem zu lösen, ist das Wichtigste, Prioritäten zu setzen. Meiner Meinung nach besteht das strategische Ziel Nummer eins darin, dass Putin nicht mehr an der Spitze steht. Ich glaube, man braucht etwas Geduld. Denn die Sanktionen wirken. Man sollte warten, bis unter der Last der Sanktionen und des sinkenden Lebensstandards ein Regimewechsel in Russland möglich ist. Gleichzeitig muss man einen psychologischen und ideologischen Krieg gegen Putin und um die Köpfe und Herren der Russen führen.“ Wie viele wohl so wie Pawel denken. Pawel selbst denkt, dass die Mehrheit hinter Putin steht.
Im nächsten Kapitel berichtet das Autorengespann über die 90er Jahre und nein, nicht unbedingt, wie schwer die Zeit für die Menschen war, sondern dass es eine Zeit war, in der der Nationalismus und Rassismus blühte. Es kommen Afrikaner zu Wort, die diesen Rassismus selbst erleben mussten. Im Jahr 2006 unterstützen 60 Prozent der Bevölkerung die Parole „Russland den Russen“ (S.22). Und die russische Propagandamaschine befeuert das, indem sie von den verlorenen traditionellen Werten im Westen/Deutschland und der Überfremdung durch Muslime redet.
Dornblüth und Franke schreiben von den Jugendorganisationen, den Naschi, der Jugendorganisation Molodaja Gwardia. Junge Menschen, die schon früh gedrillt werden sollen, das Vaterland zu lieben und falls nötig zu verteidigen.
Ilja Jaschin kommt häufiger zu Wort. 2005 treffen die beiden Journalisten ihn zum ersten Mal, da ist er Präsident der Jugendorganisation der Partei Jabloko. Bei der orangenen Revolution ist er in Kyjiw. Will das Revolutionäre nach Russland tragen. Doch es gelingt nicht. Die Menschen in Russland interessieren sich nicht für Politik, wollen nichts damit zu tun haben.
Die beiden erzählen auch von Freundschaften, die seit Jahrzehnten andauern. Etwa von Mascha. 1991 lernen die beiden sie in Hamburg kennen, wo sie mit dem Komsomol hingefahren ist. Sie wohnt in Kirow, einer 500.000-Einwohner-Stadt, gut 1000 km östlich von Moskau. Die Stadt ist in keinem guten Zustand. Mascha näht, um über die Runden zu kommen. Unter Putin geht es ihr besser, verdient mehr Geld, fliegt in Urlaub in die Türkei. Als in ihrer Stadt Nawalny 2013 vor Gericht steht, erfährt sie erst durch die Autoren des Buches davon. Einen Monat, nachdem Russland die Ukraine großflächig überfällt, steht Masche in Kirow bereit, um den ankommenden Flüchtlingen zu helfen. Warum die Menschen fliehen, darüber verliert sie kein Wort.
Aber bei all den deprimierenden Beispielen kommen auch immer wieder Menschen mit Zivilcourage zu Wort, so dass man die Hoffnung hat, dass die russische Gesellschaft nicht vollends verloren ist.
Mit dem letzten Kapitel „Was tun?“ sprechen die Autoren mir quasi aus der Seele. Sie sprechen dort das auch, was wir wahrscheinlich alle denken. Es braucht eine tiefe Aufarbeitung der Verbrechen in Sowjetrussland an der eigenen Bevölkerung. So sagt Pawel am Ende: „Nach Putin werden wir eure Erfahrungen übernehmen müssen. Wir werden erzählen müssen von den Schrecken der Revolution und des Bürgerkriegs und des Hungers der 30er Jahre und des stalinistischen Terrors, von den Verbrechen der Deutschen, Briten und Russen im Zweiten Weltkrieg usw. Und wie man das vermeiden kann. Das wurde uns in der Schule nicht beigebracht. So konnte der Kult um Stalin entstehen, deshalb haben wir Putin und den Krieg gegen die Ukraine.“ Ob das jemals in Russland möglich ist, steht in den Sternen.
Wer mehr über die russische Gesellschaft erfahren möchte, kann ich das Buch wirklich sehr sehr empfehlen. Es hätte gut und gerne auch zwei oder drei Mal so lang sein können.
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