Im September 2022 hat der Historiker Manfred Hildermeier sein neuestes Werk „Die rückständige Großmacht: Russland und der Westen“ herausgebracht. Darin beschreibt er von der Kiewer Rus bis heute, wie Russland immer versuchte, dem Westen nachzueifern. Meine Rezension:

Eine der Kernfragen, die der Professor für Osteuropäische Geschichte beantworten will, ist: Kann man bei Russland wirklich von Rückständigkeit sprechen? Ist das der passende Begriff? Dass Russland sich über die Jahrhunderte hinweg immer wieder westlicher Technologien und Know-hows bedient hat, steht außer Frage. Sei es mit Peter dem Großen, der sein Land stark europäisierte. Sei es Katharina die Große, die per Dekret 1786 ein zweigliedriges Schulsystem im russischen Zarenreich errichtete. Sei es im 19. Jahrhundert die russische Industrialisierung, bei der ausländisches Engagement eine Schlüsselrolle zukam. Sei es im 20. Jahrhundert, als die Sowjetunion nur noch mit dem Westen – zumindest technologisch – mithalten konnte, wenn es über illegale Wege sich dieser Technologie bediente.

Eine gewichtige Rolle kommt in Hildermeiers Buch dem aus Russland emigrierten Harvard-Ökonom Alexander Gerschenkron zu. Von ihm stammt die Theorie des „Privilegs der Rückständigkeit“. Dass Russland dem Westen in vielen Bereichen hinterherhinkte, wussten die Menschen dort. Aber es wurde durchaus als Vorteil gesehen, wenn man die Errungenschaften des Westens adaptiert und in die eigene Gesellschaft eingliedert. Der Vorteil lag vor allem darin, die lange Entwicklungszeit im Westen einfach zu überspringen und die Früchte praktisch schneller ernten zu können. Das gelang mal gut, mal weniger gut.

Das Buch ist trotz seiner gerade mal 270 Seiten extrem informativ geschrieben, manchmal verliert sich der Professor aber auch ein wenig in Details. Deshalb ist es nicht unbedingt für jeden geeignet. Man merkt beim Lesen, dass es doch stark für ein akademisches Publikum geschrieben wurde. Aber wer mal tiefer in die russische Geschichte eintauchen will und ganz genau wissen will, wie der Westen in welchem Jahrhundert sich in Russland wiedergefunden hat, dem kann ich das Buch durchaus empfehlen.

Ein kleiner Kritikpunkt am Ende: Im Klappentext steht als letzter Satz: Der renommierte Russlandhistoriker Manfred Hildermeier erzählt in seinem fundierten Buch die lange Geschichte dieser schwierigen Beziehung (Westen – Russland, Anmerkung T.L.) und bietet damit auch einen Schlüssel für das Verständnis der kriegerischen Politik Wladimir Putins in der Gegenwart.“ Dieser Satz ist wohl nur der aktuellen Kriegsthematik geschuldet, um das Buch besser zu verkaufen. Wirklich tiefgründig auf den aktuellen Krieg geht Hildermeier in Bezug auf Russlands Historie wirklich ein.

Aber da freut euch schon auf die nächste Rezension. Da werde ich ein sehr gutes Buch vorstellen, dass genau das bietet: Wie konnte es zu diesem Krieg kommen? Wie konnte die russische Gesellschaft so verrohen? Alles in der nächsten Rezension.

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