
Liebe Freunde Osteuropas! Schon lange freue ich mich auf das Buch „Das Land, das ich liebe – Wie es wirklich ist, in Russland zu leben“ von Jelena Kostjutschenko. Gestern habe ich es zu Ende gelesen. Was soll ich sagen: Es hat meine Erwartungen übertroffen. Meine Rezension:
Jelena Kostjutschenko wusste schon früh, dass sie Journalistin werden will, hat bereits während ihrer Schulzeit mit dem Schreiben angefangen und arbeitete ab 2005 bei der unabhängigen Zeitung Novaja Gaseta. In ihrem Buch „Das Land, das ich liebe“, das gestern offiziell erschienen ist, sind sowohl viele ihrer Reportagen aus ihrer Zeit als Korrespondentin abgedruckt, als auch sehr persönliche autobiografische Essays.
So erzählt sie zu Beginn des Buches über ihre frühesten Kindheitserinnerungen, wie sie Jelzin nicht mochte, weil wegen ihm die Banditen aufgetaucht sind und ihre Mutter „so erschöpft herumläuft“. Über ihre Schwierigkeiten in Russland als lesbische Frau zu leben. Ihren Umzug nach Moskau, die Renovierungsarbeiten ihrer Wohnung und wie sie diese Wohnung wieder verlor, weil entschieden wurde, dass mehrere Häuser in ihrem Bezirk – darunter das ihrer Wohnung – abgerissen werden sollten.
Ihre Reportagen führen sie immer weg von Moskau. Was gut ist. Ein Kapitel lautet auch „Moskau ist nicht Russland“. Ein Satz den ich selbst auch schon öfters gehört habe. So geht es etwa nach Schljus, Kalschnikowo oder Buchalowo. Alles Orte, die an der Gleisstrecke zwischen Moskau und Sankt Petersburg liegen. Orte, die teilweise keinen Gasanschluss haben, obwohl die Rohre nur wenige Kilometer weit entfernt verlaufen. Oder ein Ort, an dem ein Kranker bis zur nächstgelegenen Bahnstation gebracht wird und dort mit dem Zug in eine Stadt mit Krankenhaus fährt.
Sie macht ein Praktikum bei der Kriminalpolizei und erhält so Eindrücke über deren Arbeitsweise. So gibt es bei der Polizei sogenannte „Nullfälle“. Das sind Fälle, die komplett ausgedacht sind. Auch sonst werden Fälle immer wieder mit „Korrekturen“ versehen. Denn nur ab einer gewissen Zahl an Fällen, die pro Monat ans Gericht gehen, gibt es eine Prämie.
Sie schreibt über die Arbeit von Prostituierten, ist 2016 in Beslan, um mit Angehörigen der getöteten Kinder und Erwachsenen bei dem Geiselname in der Schule im September 2004 zu sprechen. Eindrücklich schildert sie, wie groß der Schmerz auch noch zwölf Jahre später bei allen Beteiligten ist und wie die Regierung jede Form der Trauer und des Gedenkens verhindert.
Sie geht in den Ort Norilsk, einer Stadt mit gut 175.000 Einwohnern weit im Norden Russlands und die nördlichste Großstadt auf der Welt. Da dort unter anderem Nickel abgebaut wird, gibt es in der Gegend eine hohe Umweltverschmutzung. Die Menschen wissen davon, doch können sie nichts dagegen machen. Und die Mächtigen vor Ort machen nichts, weil sie nur an den Profit denken. Wenn dann ein Unglück passiert, werden ein paar vor Gericht gestellt und es geht weiter wie gehabt. So ist dieser Ort wie ein Staat im Staat. Die Menschen verdienen dort wesentlich mehr als anderswo. Aber sie bezahlen dafür auch mit ihrer Gesundheit.
Es gibt noch viele weitere Geschichten in dem Buch. Am Ende erzählt Kostjutschenko vom großen Invasionskrieg in der Ukraine. Sie ist als Reporterin vor Ort. Sie erzählt von Ukrainern, die ihre Heimat mit allem, was sie haben verteidigen. Auch 2014, als der Russlands Krieg im Osten der Ukraine begann, war sie in Rostow am Don und berichtet von russischen Toten, die aus der Ukraine zurück nach Russland gebracht werden. Tote, die es damals offiziell gar nicht geben darf.
Beim Lesen dieses unglaublich guten Buchs schäme ich mich fast schon, so selten die Novaja Gaseta gelesen zu haben. Kostjutschenkos Reportagen sind lebendig geschrieben, fast schon romanhaft. Man taucht ein in die Lebenswelt in Russland, als wäre man selbst vor Ort. Man versteht durch dieses Buch mehr und mehr, wie es wirklich ist, in Russland zu leben.
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