Liebe Freunde Osteuropas! Ich habe mal wieder ein sehr gutes Buch gelesen. Es geht um „Anfang des Krieges: Tagebücher aus Kyjiw“ von Jewhenija Bjelorussez. Darin beschreibt sie ihre Eindrücke in Kyjiw vom 24. Februar bis in den Juli hinein. Meine Rezension:

Wer wissen will, wie war es eigentlich, in den ersten Tagen und Wochen des großen Kriegsbeginns in Kyjiw zu leben, dem sei dieses Buch empfohlen. Bjelorussez erfährt, wie so viele vom Beginn der Invasion. Sie wacht morgens auf und hat haufenweise Nachrichten auf ihrem Handy.

Auch Bjelorussez konnte nicht glauben, dass es wirklich zu einem so groß angelegten Angriffskrieg kommen kann. Die ersten Tage sind dann erst von großer Angst und Ungewissheit geprägt. Schaffen es die Russen nach Kyjiw? Schnell verbreiten sich Nachrichten, sie könnten schon in der Stadt sein. Zu Beginn informieren die ukrainischen Medien nahezu in Echtzeit von den Raketeneinschlägen. Das lässt schnell nach, damit die Russen nicht erfahren, wo genau sie getroffen haben und dann nachjustieren. Einmal wird ein Wohnhaus beschossen, nur weil auf einem wenige Sekunden andauernden TikTok-Video Panzer vor dem Gebäude zu sehen sind. Als die Raketen einschlagen, sind die Panzer längst woanders.

Als Journalistin ist Bjelorussez ständig – wenn möglich – in der Stadt unterwegs, macht Bilder von den leeren Straßen und Plätzen. Manchmal wird die selbst verdächtig angesehen. Man denkt, sie spioniert für die Russen. Wenn sie ihre Akkreditierung als Journalistin zeigt, wird sie in Ruhe gelassen. Doch solle sie keine Fotos von Menschen online stellen.

Die ersten Tage sind von großer Angst geprägt. Niemand weiß, was genau passiert. Immer wieder schreibt sie über Mariupol. Dort sind die Menschen schnell eingeschlossen. Dann kommt ein Hilfskonvoi, aber er kommt nicht durch. Dann schaffen es die Menschen wieder nicht raus, weil geschossen wird. Sie schreibt von dem berühmt gewordenen Theater, vor dem in großen Buchstaben „Kinder“ geschrieben stand und der zerstörten Geburtsklinik in Mariupol, deren Bilder um die Welt gehen.

Immer wieder beendet sie ihre Tagebucheinträge damit, man soll den Himmel schließen. Später meint sie, dann doch wenigsten Waffen schicken, so dass man sich vor den Luftangriffen wehren kann.

So verrückt es scheint. Auch schöne Momente beschreibt sie. Etwa als eine fremde alte Dame, die auf einer Bank vor ihren schweren Einkaufstüten sitzt, und auf ihren Neffen wartet, der ihr beim Tragen helfen soll, sich freut, dass sie bei dem Artilleriebeschuss nicht alleine ist. Oder Menschen, die sich umarmen, sich küssen, weil sie froh sind, sich wieder zu sehen.

Wie die Stadt erst einschläft und doch schon sehr bald wieder zum Alltag zurückkehrt. Die Geschäfte und Cafés machen wieder auf. Wenn wieder ein Kaffeekiosk auf ihrem Weg geöffnet hat, freut Bjelorussez sich riesig.

Bjelorussez berichtet von einer Frau, die es schaffte ihr Mutter aus Dnipro in Ausland, nach Riga zu bringen. Die Mutter hatte ihre Warn-App, die vor Luftalarm warnte immer noch an. Und als das Telefon in der Nacht bimmelte, wollte sie in dem Rigaer Hotel unbedingt in den Keller, um sich zu schützen. Die Rezeptionistin fand bei ihr kein Gehör. Erst als die Rezeptionistin um 4 Uhr nachts die Tochter in der Ukraine anrief, konnte die Tochter die Mutter davon überzeugen, dass sie in Sicherheit ist und keine Bomben fürchten muss.

Bjelorussez ist beeindruckendes Buch gelungen, in der sie uns tief in den Alltag in Kyjiw eintauchen und uns vor Ort spüren lässt, was es bedeutet, die ersten Kriegswochen in der ukrainischen Hauptstadt zu verbringen. Wirklich sehr zu empfehlen.

Ein kleines bisschen Kritik muss ich aber aussprechen. Aus welchem Grund auch immer wechselt die Schreibweise der Städtenamen immer wieder. Manchmal direkt im nächsten Satz. Etwa bei Kiew/Kyjiw, Lissitschansk/Lyssytschansk, Charkiw/Kcharkiv(?), Tschernihiw/Chernihiv.

Und noch etwas: Nach dem Lesen des Buches hatte ich zum ersten Mal den Drang nur noch Ukrainisch zu sprechen (was ich nicht kann) und kein Russisch mehr (was sich sehr gut kann). Das Thema Sprache Ukrainisch-Russisch kommt in dem Buch nicht vor. Aber wenn man mit Bjelorussez und den Schicksalen, die sie beschreibt – und von denen gibt es einige – liest, wird einem schon anders.

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