Liebe Freunde Osteuropa! Mit dem Buch „Adieu, Osteuropa: Kulturgeschichte einer verschwundenen Welt“ hat sich Jacob Mikanowski eine Marktlücke erschlossen. Ein Buch in der Art habe ich bislang noch nie gelesen. Meine Rezension:

Was das Buch vielen anderen Sachbüchern über die Länder Osteuropas gemein hat, ist, dass er schon noch recht chronologisch vorgeht. Es beginnt mit der frühesten Zeit, in der man grob etwas über die Völker und Kulturen aus dem Raum Osteuropa weiß, also die ersten Jahrhunderte nach Christi Geburt und dann geht es nach und nach bis in das 21. Jahrhundert. Sogar der große russische Invasionskrieg in der Ukraine, der im Februar 2022 begann, findet am Ende Erwähnung.

Nun aber zu den Besonderheiten. Denn die gibt es in Hülle und Fülle. Erstmal geht Mikanowski nicht strikt nach Ländern und starr chronologisch vor. Vielmehr bespricht er einzelne Themen und bringt darin den gesamten Raum Osteuropas dem Leser und der Leserin nahe. Die ersten Kapitel lauten etwa „Heiden und Christen“, „Juden“, „Muslime“ und „Ketzer“. So tauchen wir zuerst in einer Welt Tausend Jahre vor unserer Zeit ein. Eine Zeit, in der die Slawen noch nicht christianisiert waren, in der sie noch Naturgötter anbeteten. Das Buch wimmelt nur so von Anekdoten, interessanten Geschichten und Persönlichkeiten. Wie etwa Baal Schem Tov, der im 18. Jahrhundert in der ukrainischen Stadt Medschybisch lebte und die chassidische Bewegung im Judentum begründete. Oder Sari Saltuk, einem „herausragende[n] Volksheld des Balkan-Islam“.

Auch seine eigene Familiengeschichte verwebt Mikanowski immer wieder in die Erzählungen mit ein. Etwa kämpfte der Urgroßvater von Mikanowskis Vater im Januaraufstand 1863/64 in Polen, ein Urgroßvater des Autors trat einem Sowjet in Witebsk bei. Dort war er Richter in einem improvisierten Gericht, in dem er royalistische Offiziere wegen Hochverrats zum Tode verurteilte. Seine Großväter hatten sich damals für den Kommunismus entschieden, für beide war das eine Familienangelegenheit. Die Tante seiner Mutter wurde hingerichtet. Sie hatte damals einen zweijährigen Sohn. Dass Mikanowski überhaupt davon weiß, liegt daran, weil sie sich einer Zellengenossin anvertraute und diese aufschrieb, was aus seiner Verwandten geworden ist. Der Text überdauerte die Zeit in einer Milchkanne, versteckt im Warschauer Ghetto.

Mikanowski war zudem oft in Osteuropa unterwegs und schildert, was er selbst gesehen hat. Er spürt die Orte auf, über die er schreibt, um dem Leser näherzubringen, wie es dort heute aussieht. Es gibt auch immer wieder Schwarz-weiß-Fotos von den Orten, etwa dem Rudas-Bad in Budapest, das unter osmanischer Herrschaft im 16. Jahrhundert gebaut wurde und bis heute als Badeanstalt genutzt wird oder einer alten christlichen Kirche in Voskopoje in Albanien, ein Ort, der eigentlich mehrheitlich von Muslimen bewohnt war.

Während die erste Hälfte des Buches das reichhaltige kulturelle Leben im Raum Osteuropa beschreibt, wird es in der zweiten Hälfte etwas düsterer. Denn zwangsläufig kommt auch das 20. Jahrhundert, die Verbrechen der Nazis, der Stalinismus in dem Buch vor. Einerseits zeigt er dort auf, wie die alte Kultur nach und nach verschwindet, vermengt mit den historischen Ereignissen, die man auch in jedem anderen Geschichtsbuch zu den einzelnen Ländern lesen kann. Es bleibt aber trotzdem – vor allem durch die besondere Erzählkraft – an diesen Stellen weiterhin sehr lesenswert.

Zum Schluss bleibt nur zu sagen, dass Mikanowski mit diesem knapp 480-Netto-Seiten-Werk ein hervorragendes Debüt hingelegt hat. Wer sich nur ein wenig für Osteuropa interessiert, muss dieses Buch lesen. Ich werde mir den Namen Jacob Mikanowski auf jeden Fall merken. Denn ich hoffe doch sehr, dass er noch viele weitere Bücher schreiben wird.

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